27. Juni 2025 — Wenn wir auf die der Schanze vorgelagerte Wiese, das heißt auf die Wasserscheide zwischen Horbach und Deesbach treten, wiederholt sich, jetzt in nordöstlicher Richtung, der Eindruck eines von Berghängen eingerahmten Fensters in die Ferne. Aber wir sind hier nicht nur so weit oben, sondern auch so weit innen im Gebirge, daß die eigentliche Ferne ausgespart bleibt. Sie bleibt ausgespart und ist doch da im Leuchten der Weite des Himmels. Es ist ein Leuchten, das es nur im Hochland gibt. Und das wahrnehmbar ist vielleicht nur im Wissen um die hinter der Horizontlinie liegende Fülle der Gegenden.
Wie der Fernblick nach Südosten vom Rennsteig begrenzt wird, so der nach Nordosten von einer bewaldeten Höhenlinie, deren höchster Punkt die als langgezogener Rücken erscheinende Zipptanskuppe ist. Es ist ein merkwürdiger Effekt, daß sie Blickgrenze zu sein vermag, obwohl sie gut hundert Meter tiefer liegt als die Stelle, an der wir stehen. Und sie ist keineswegs das erste, was auffällt, wenn der Blick jenseits der Wasserscheide sich öffnet. Er bleibt überraschend, selbst wenn man ihn jahrelang jeden Tag aufsucht. Hier nun liegt uns nämlich das Dorf Deesbach zu Füßen, und es liegt weniger in einem Tal als in einem von Steilhängen umgebenen Tobel, der erst am unteren Ende des Dorfes in ein noch weit und weiter hinabführendes Tal übergeht. Der Talgrund, tief unten, ist unsichtbar. Von dort, wo sich die beiden Talsperren befinden, liebt dichter Nebel es, heraufzukriechen oder auch mit geheimnisvoller Schnelligkeit hervorzuspringen, um in flachem Strom über den Sattel der Wasserscheide in das Geräum des Horbachquellgrunds zu schwappen.
Die Gestalt des Tobels kommt dadurch zustande, daß sich, ante portas nur ahnbar, die Himmelsleiter in nordnordöstlicher Richtung in einem schön geschwungenen Höhenzug zum 784 Meter hohen Kirchberg hin fortsetzt. Dort steht seit 1890 in putzig-unbeholfenem Gedenken an den Erzieher Friedrich Fröbel ein Aussichtsturm, eben der Fröbelturm, der mit seinem leuchtenden Weiß und den ihn umgebenden Kiefern aussieht wie ein Leuchtturm an der Ostsee. Wie der Kirchberg sich in den Himmel vorschiebt und an manchen Frühsommertagen von einer meerartigen Bläue umgeben ist, schafft tatsächlich ein eigentümliches Küstengefühl. Zu dieser Verfremdung trägt auch der dem Dorf zugewandte Südhang des Kirchbergs bei. Es ist jener, der auf beinahe allen alten Postkarten aus Deesbach zu sehen ist: den wunderbaren Anblick der alten baumfreien Acker- und Wiesenterrassen bietend. Ganz baumfrei sind sie heute nicht mehr, und sie werden nur noch von weidenden Kühen in Gebrauch genommen. Aber man scheint sich Mühe zu geben, sie nicht verwildern zu lassen, und im Verein mit der Vollkommenheit der Erdformen sind sie es, die dem Bild das Gepräge einer in sich abgeschlossenen, so kleinräumigen wie reich gegliederten Wunderkammer geben, von deren Existenz man »unten« nichts ahnt.
Der Gesamtaufbau des Bildes ist kunstvoll, als hätte ein auf äußerste Harmonie bedachter Geist es ersonnen. Hinter dem Dorf schließen sich die Hänge beinahe wieder zusammen. Das liegt daran, daß sowohl der uns gegenüberliegende Kirchberg als auch »unsere« Schanze in ihrem jeweiligen Absturz noch Buckel formen, die so prägnant sind, daß sie eigene Namen (Wormberg und Winterberg) bekommen haben. Vom Wormberg rauscht besonders prächtiger Tannenwald hangabwärts, und dahinter, wenn wir also durch das nordöstliche »Fenster« blicken, bietet sich, jenseits der Talsperrenkluft, der Zipptanskuppe vorgelagert, ein mehrstufiges Bild. Wir blicken hier in eine hinter der Kluft wieder ansteigende Schneise oder Flucht, in die sich von links und rechts verschiedene Höhenzüge vorschieben. In der Mitte aber gibt der Teppich der Wälder eine Hügelkuppe frei, auf der wir die Gebäude des Haflingergestüts von Meura erkennen, und darüber folgt ein unbewaldeter, sehr mächtig wirkender Hügel, auf dem wir die ersten Häuser des hinter der Hügelkuppe verborgenen Wittgendorf erkennen, vom langen Zug der Zipptanskuppe wiederum überragt. Durchquert man diese Landschaftskammer zu Fuß, ist es ein beständiges Auf und Ab; mehrere tief eingeschnittene Bachgründe, die zur Schwarza hin entwässern, sind zu passieren. Fußgängern begegnet man hier nicht, und Autos fahren so wenige, daß sich auch die engen Fahrstraßen gut benutzen lassen.
Die Verschachtelung der Gegend trägt zum Gefühl der Entlegenheit bei. Zwischen dir und der Welt (als wäre hier keine) tut sich ein ganzes System von Bergen und Tälern auf. Dabei ist die Entlegenheit Deesbachs zum Teil auch eine künstliche. Da es sich bei den Talsperren um Trinkwassertalsperren handelt, ist der ganze Talabschnitt für den Verkehr gesperrt, und Deesbach ist zum Sackgassendorf ohne Durchgangsverkehr geworden. Da jedes Grundrauschen fehlt, gibt es, wenn die Einzelgeräusche einschlafen, das Glück vollkommen stiller Stunden. Wie am Vollmondabend des 13. dieses Monats. Zur blauen Stunde das wie menschenleere Dorf durchquerend, waren sogar die Hunde verstummt, und umso sichtbarer waren die wie auf Verabredung überall teils hellwach stromernden, teils träumend-sinnenden Katzen, während auf den alten Schiefersteinmauern das Hornkraut leuchtete. Dann hinauf auf den Kirchberg, rechtzeitig zum Aufgang des riesigen roten Mondes über der großen, einfachen, jetzt vollkommen schwarzen Welt. Kein Laut (die Grillen werden erst im Juli anfangen zu zirpen), kein Licht, nur der Duft des Grases. Kein Echo erreicht dich, guter Mond, und trotzdem wanderst du, als gäbe es ein Ziel.