26. Juni 2025 — Die Rückseite des Hauses blickt nach Südosten. Das Grundstück ist leicht geneigt und liegt am Rande eines abschüssigen Bergwiesengeländes, in das sich, kaum hat er sich in den Wiesen gesammelt, der Horbach tief in den Schiefer gräbt. In zwei-, dreihundert Metern Entfernung beginnt der auf steinigem, teils sandigem Boden von Kiefern durchsetzte Fichten- und Tannenwald. Kaum hat der Bach den Wald erreicht, wird die schmale Talkerbe so steil, daß ihr weiterer Verlauf vom Haus aus unsichtbar bleibt. Man blickt an dieser Stelle weit über das Tal hinweg gegen den Rennsteig, und dieses Fenster ins Land ist schön eingerahmt von den Baumwipfeln, die zu beiden Seiten gleichmäßig herabreichen. Es ist dunkles Land: nachts kein Licht. Lediglich hinter dem Hügel zur Rechten ein violetter Schimmer, der auf ein Dorf oder eine Stadt hinweist: das in zehn Kilometern Entfernung gelegene Neuhaus am Rennweg.
Das Bild ist gestuft, denn der Blick gegen den Rennsteig geht über mehrere Kerben und Täler hinweg. Der vordere Einschnitt des Horbachtalgrundes wird begrenzt von einem langgezogenen Rücken namens Köhlersheide. Er ist in den letzten Jahren vollständig gerodet worden. Da dieser Bergrücken mit 670 Metern ü. NN. tiefer liegt als das Haus, das auf 740 Metern errichtet ist, gleitet der Blick darüber hinweg und trifft zwischen der Köhlersheide und dem Rennsteig auf eine weitere Linie: sie gehört zu einem der vielen »Langen Berge« der Gegend. Der unspezifische Name ist hier passend gewählt, da es sich um ein diffus gegliedertes Waldgebiet mit mehreren unmarkanten Gipfeln handelt. Die Bäche, die hier entspringen, sammeln sich im Fischbach, auch Fränkischer Fischbach genannt. Horbach und Fischbach fließen tief unten im Talgrund zusammen, bevor ihre Wasser in das Flüßchen Lichte einmünden. Dieses aber kommt aus dem Tal, das hinter dem Gebiet des Langen Berges gelegen ist. Hier befindet sich auch, aus der Entfernung freilich weder sicht- noch hörbar, die ohnehin nur schwach bis mäßig befahrene Bundesstraße, die von Neuhaus hinab nach Saalfeld führt. Erst hinter diesem Tal hebt der Rennsteig an. Der vom Haus aus sichtbare Abschnitt ist etwa der zwischen Ernstthal und Spechtsbrunn. Aus der Ferne betrachtet erscheint der Rennsteig bei Spechtsbrunn schnur- oder tischgerade; eine schwarze Tannengruppe steht dort wie Soldaten auf einem Spielbrett.
Dieses südöstliche Fenster in die Ferne ist das einzige, das sich öffnet; ansonsten ist das Haus ganz von der nahen Umgebung eingehegt. Aber da wir uns hier fast ganz oben befinden, ist die Einhegung eine sanfte, das Haus nur um wenige Meter überragende, von freier Höhe durchlichtete. Im Winter geht die Sonne hinter der Schanze auf, wodurch sich der späte Sonnenaufgang weiter verzögert (ein herrliches Zögern). Schanze ist der Name des Hügels, der in ostsüdöstlicher Richtung den linken Rahmen des Fernblicks bildet. Im Dreißigjährigen Krieg war dort eine Schwedenschanze errichtet. Jetzt im Sommer freilich steht die Sonne schon am Morgen hoch darüber. Der höchste Punkt der Schanze liegt auf 760 Metern ü. NN.; vom Haus aus gesehen handelt es sich also nur um eine bewaldete Düne, zu der von der Straße aus, an der das Haus steht, ein breiter Feldweg führt, der in einen Waldweg übergeht. Der Schanze vorgelagert ist der obere Teil des genannten Wiesengeländes, die Höhe der Schanze flacher fortsetzend und eine frei begehbare, schön geschwungene Kuppe oder Wölbung formend, bei der es sich, nur wenige Schritte vom Haus entfernt, bereits um die erste Wasserscheide handelt. Die Wasser des Geländes hinter der Wölbung sammeln sich im Deesbach, dem Dorf den Namen gebend. Er fließt steil hinab und mündet in die Deesbacher Talsperre, welche die den Horbach und den Fischbach aufnehmende Lichte staut. Die Schanze, die vom Haus aus gesehen als Düne erscheint, ist auf der Rückseite also ein gewaltiger Berg, der einen tief eingeschnittenen Talgrund überragt.
Das Dorf ist für seine steilen Hänge bekannt. Die Einfahrt ins Dorf mit dem Auto erfolgt von oben, wo auch das Haus als Glied einer Reihe von Häusern steht. Die Straße ist hier ganz eben, noch keinen Steilhang ahnen lassend. Dieser obere Bereich heißt Senne, wohl der hochflächenartigen Wiesen wegen, die auf einen Norddeutschen schon ganz süddeutsch wirken, als wäre man im Allgäu. Die Straße führt hier quer über den flachen Sattel, der die Schanze mit dem gegenüberliegenden Berg verbindet: der 774 Meter hohen Himmelsleiter, auf der sich ein Fernmeldemast befindet. Auch diese beinahe nur eine Düne. Die Kuppe und der dem Dorf zugewandte Hang der Himmelsleiter sind gänzlich unbewaldet und bieten inmitten der süddeutsch anmutenden Nahumgebung einen eher irischen oder schottischen Anblick.
Die Einhegung des Hauses wird vervollständigt durch einen weiteren Sattel, der die nordnordöstlich gelegene Himmelsleiter als Spitze eines Dreiecks mit dem Berg verbindet, der zugleich den rechtsseitigen Rahmen des beschriebenen Fernblicks bildet: die 808 Meter hohe, südsüdwestlich gelegene Hettstädt, die in ihrer Unscheinbarkeit einer der merkwürdigsten Berge der ganzen Gegend ist. Kein Wegweiser nennt ihren Namen, nur alte, vergessene, grasüberwachsene und versumpfte Forstwege führen auf ihren Gipfel, der keinerlei Aussicht bietet – dies aber ein Thema für demnächst. Auch der Sattel zwischen der Himmelsleiter und der Hettstädt bildet eine Wasserscheide: die zwischen dem Horbach und der Weißen Schwarza. Dieser Sattel ist so flach, daß vom Obergeschoß des Hauses aus die Dächer der paar dahintergelegenen Häuser sichtbar sind. Über den Sattel bläst fast immer ein kräftiger Wind; die weite Aussicht, die er bietet, kann indes hier, ante portas, noch nicht Thema sein. Wir sind ja im Haus, fünf Gehminuten von der Aussicht entfernt, und genießen unser Eingehegtsein, ja Verschanztsein zwischen den Hügeln und Satteln. Wozu auch die gewaltigen Äste der alten Weißtanne im Garten beitragen, die den südöstlichen Fernblick versperren, wie um ihn vor Verbrauch zu schützen. Sie verwandeln das Wohnzimmer in eine nur von den Kohlmeisen und Dompfaffen besuchte Höhle, die der lachhaften, verrotteten Puppenwelt grundsätzlich abgewandt ist und bleiben muß.




